Was war passiert?
Um Surfer auf einer Strömung am Fluss zu beobachten, hielt die aufsichtspflichtige Mutter (die Zweitbeklagte) mitsamt ihrem viereinhalbjährigen Kind (dem Erstbeklagten), dessen älterem Bruder und seiner Cousine auf einer wenig befahrenen, aber gehsteiglosen, Brücke. Das Kind ist ein grundsätzlich ruhiges und folgsames Kind, insbesondere gab es bis zum Unfallzeitpunkt keine Situation, in der es im Straßenverkehr plötzlich weggelaufen wäre. Da einer der Surfer zu Sturz kam und unter der Brücke durchgetrieben wurde, lief das Kind zur anderen Brückenseite, worauf es schließlich zur Kollision mit einem sich annäherden Radfahrer (dem Kläger) kam. Dieser nahm die Personen auf der Brücke jedenfalls zwar wahr, verringerte aber die Geschwindigkeit nicht. Durch den Sturz erlitt der Kläger Verletzungen. Hätte die Zweitbeklagte ihren Sohn an der Hand gehalten oder andere Maßnahmen ergriffen, wäre der Unfall verhindert worden. Auch der Kläger hätte bei Annäherung an die Brücke aufgrund der Wahrnehmung der Kinder die Geschwindigkeit reduzieren und somit den Unfall vermeiden können.
Das Erstgericht teilte das Verschulden schließlich zwischen dem Kläger und der Zweitbeklagten im Verhältnis 1:2. Die Schadenersatzklage gegen den Erstbeklagten wies das Erstgericht ab. Diese Entscheidung wurde nicht bekämpft und daher rechtskräftig. Die Entscheidung betreffend Kläger und Zweitbeklagter wurde von beiden Seiten bekämpft. Das Berufungsgericht bestätigte jedoch die erstinstanzliche Entscheidung.
Gegen diese Entscheidung erhoben sowohl der Kläger als auch die Zweitbeklagte Revision an den OGH.
Wie entschied der Oberste Gerichtshof?
In seiner rechtlichen Beurteilung führte der OGH aus, dass die Verkehrsteilnehmer nicht auf ein verkehrsgerechtes Verhalten von kleinen Kindern, auch wenn sie bereits Schulkinder sind, vertrauen dürfen. Vielmehr muss die Geschwindigkeit nahe Schritttempo herabgesetzt und in ständiger Bremsbereitschaft gefahren werden. Nimmt ein Fahrzeuglenker am Rand ein Kind war, ist die Geschwindigkeit so zu verringern, dass im Falle des Betretens der Fahrbahn ein Unfall verhindert werden kann. Insbesondere ist bei Kindern im vorschulpflichtigen Alter, die sich auf der Fahrbahn aufhalten, immer mit einem verkehrswidrigen Verhalten zu rechnen. Daran ändert auch die Anwesenheit von Erwachsenen nichts. Zum Verhalten der Mutter (also der Zweitbeklagten) führte der OGH aus, dass zwar eine ständige Beobachtung auch von Kindern im Alter von vier Jahren nicht verlangt werden kann, allerdings grundsätzlich strenge Anforderungen an die Erfüllung der elterlichen Aufsichtspflicht zu stellen sind und bloße Verbote nicht ausreichend sind, sondern ein Kind ausreichend und zumutbar überwacht werden muss. Die Zweitbeklagte kam dem nicht nach, da sie weder ihr Kind festhielt noch sich so positionierte, dass sie ihr Kind am Davonlaufen hindern konnte, und auch den Radfahrer erst bemerkte, als ihr Sohn schon losgelaufen war, sie also auch dem Radfahrer keine Aufmerksamkeit schenkte.
Der OGH wies die Revisionen als unzulässig zurück. Es blieb somit bei der Verschuldensteilung zwischen Kläger und Zweitbeklagter von 1:2.
(Entscheidung OGH 2 Ob 180/21s vom 14.12.2021)
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