Was war passiert?
Der Kläger ist Sohn des Verstorbenen, der Beklagte dessen Bruder. Mittels Testament hat der Verstorbene den Beklagten zum Alleinerben bestimmt und den Pflichtteil des Klägers auf die Hälfte reduziert. Nach der Hochzeit des Klägers 2005 verringerte sich der zuvor bereits lediglich sporadische Kontakt zunehmend und brach 2008 schließlich vollständig ab. Der Grund für den Kontaktabbruch lag einerseits auf Seite der Familie der Ehefrau des Klägers, anderseits am Gesundheitszustand des Vaters – dieser litt ua an depressiven Zuständen und Wahnvorstellungen, weshalb er auch in psychiatrischer Behandlung war und in weiterer Folge ein Sachwalter (nunmehr: Erwachsenenvertreter) bestellt wurde.
Der Kläger akzeptierte die Halbierung des Pflichtteils nicht und machte den vollen Pflichtteil beim Beklagten geltend. Das Erstgericht gab dem Begehren des Klägers statt und sprach ihm den vollen Pflichtteil zu. Begründet wurde dies damit, dass ein längerer Zeitraum iSd § 776 ABGB nicht vorliege. Auch das Berufungsgericht bestätigte grundsätzlich die Entscheidung, verminderte aber den Pflichtteilsanspruch ein wenig.
Gegen dieses Urteil erhob der Beklagte Revision an den OGH. Darin brachte er unter anderem vor, dass bei der Frage der Pflichtteilsminderung immer auf den Einzelfall abzustellen sei und im konkreten Fall eine Pflichtteilsminderung gerechtfertigt sei.
Wie entschied der Oberste Gerichtshof?
Die wesentliche Frage die der OGH zu beantworten hatte, ab wann ein „längerer Zeitraum“ iSd § 776 ABGB vorliegt.
Gemäß § 776 Abs 1 ABGB kann der Pflichtteil nämlich auf die Hälfte vermindert werden, wenn zumindest über einen längeren Zeitraum kein Naheverhältnis zwischen Verfügenden und Berechtigten bestand, der zwischen Familienangehörigen gewöhnlich besteht.
In seinen Ausführungen beschäftigte sich der OGH ausführlich sowohl mit den Materialien als auch mit den verschiedensten Lehrmeinungen und kam dabei zu dem Ergebnis, dass im Eltern-Kind-Verhältnis idR zumindest 20 Jahre vergehen müssen, damit ein „längerer Zeitraum“ vorliegt. Damit lehnte der OGH jene Lehrmeinungen ab, die auch kürzere Entfremdungszeiträume als ausreichend ansehen.
Der Revision wurde daher nicht Folge gegeben. Das Erfordernis der mindestens 20-jährigen Entfremdungszeit war noch nicht gegeben, weshalb dem Kläger der volle Pflichtteil zusteht.
(Entscheidung OGH 2 Ob 83/21a vom 14.12.2021)
Gerne berate und unterstütze ich Sie bei Fragen zum Familienrecht, Eherecht und Erbrecht.